Bundesländer
Aktionen

"Die Volkshilfe steht in der Tradition des antifaschistischen Widerstandes, an die man nicht oft genug erinnern kann."

Ein Gespräch mit dem Autor Alexander Emanuely

Die Volkshilfe wird 75 Jahre alt. Anlässlich des Jubiläums verfasste Alexander Emanuely ein Buch zur Vor- und Entstehungsgeschichte. Diese Geschichte reicht weit zurück und beginnt von jenen Vorgänger*innen, die gegen die unfassbare Not nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich ankämpften bis zur Gründung der Volkshilfe im März 1947. Die Geschichte erzählt auch von Widerstand und von Verfolgung in der Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus, von mutigen Menschen, die halfen, als Solidarität lebensgefährlich war.

 

Das Buch legt seinen Fokus besonders auf die vielen Menschen im Hintergrund, ohne die es die Volkshilfe heute so nicht geben würde…

Mich interessieren beim Recherchieren und Schreiben immer zuerst die Menschen, ihre Lebensgeschichten, ihre Motivation. Viele der zentralen Pionier*innen der Volkshilfe und der Vorgängerorganisationen sind heute Unbekannte, Vergessene. Ihre Geschichten sind nicht nur unheimlich spannend, sie sind meines Erachtens auch wichtig, um eben die Gründung der Volkshilfe, aber auch um unsere Gesellschaf zu verstehen, ob es nun um Bereitschaft vieler Menschen zu helfen geht, oder um die Gründe der Armut. Die Menschen, von denen erzählt wird, zeugen von einem unheimlichen Ausmaß an Solidaritätsbewusstsein. Da wäre die Gründerin und Obfrau der Societas, die sozialdemokratische Bundesrätin Marie Bock. Das Organisationstalent, das Können und Wissen dieser aus einer Arbeiterfamilie stammenden Frau hat im Grunde unzähligen Menschen in größter Not das Leben gerettet… Sie erlebte schließlich Schreckliches in den Kerkern der Gestapo. Marie Bock steht für hunderte Frauen und Männer, die, meist selbst prekär lebend, ihr Leben der Solidarität gewidmet haben.

Was war die Societas?

Ein 1921 von sozialdemokratischen Fürsorgevereinen gegründeter Verband. Im Gegensatz zu vielen anderen Hilfsorganisationen wollte man allen Menschen in Not helfen, auch jenen, die kein Verhältnis zur Sozialdemokratie besaßen. Weiters förderte man die Professionalisierung der Fürsorgearbeit, weshalb auch eigene Ausbildungseinrichtungen gegründet wurden. Schließlich organisierte man für tausende Stadtkinder aus armutsbetroffenen Familien jährlich einen leistbaren Sommerurlaub am Land. Im Grunde war die Societas die Volkshilfe der Ersten Republik.

In welche Abschnitte lässt sich das Buch gliedern?

Die Vorgeschichte der Volkshilfe bis zur Gründung 1947 lässt sich in drei Etappen einteilen: Die erste beginnt nach dem Ersten Weltkrieg. Unvorstellbare Armut und Not herrschten in Österreich. Der Sozialstaat befand sich erst im Stadium des Aufbaus und ohne die Hilfe der privaten Fürsorge, aber auch internationaler Organisationen, hätte es in Österreich eine humanitäre Katastrophe viel größeren Ausmaßes gegeben. Die zweite Etappe beginnt 1934, als die Demokratie in Österreich abgeschafft wurde und der Widerstand im Untergrund begann. Die „Sozialistische Arbeiterhilfe“ half jenen Familien, deren Männer in Haft waren, sammelte Gelder, verteilte Hilfsmittel. Alles natürlich unter strenger Geheimhaltung. Diese Arbeit wurde nach 1938 fortgesetzt. Die dritte Etappe beginnt mit der Befreiung Österreichs 1945.

Anfang der 20er Jahre wurde die Vorgängerin der Volkshilfe gegründet…

Nach den zerstörerischen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges zählte Österreich zu den am schwersten betroffen Ländern Europas. Vor allem die Siegermächte wussten, dass ohne Hilfe Abertausende sterben würden. So halfen z.B. die Amerikaner und versorgten zeitweise im ganzen Land über 200.000 Kinder täglich mit Essen. Andere Länder, so die Niederlande oder Dänemark, und private Organisationen nahmen tausende Kinder auf. Man brachte diese bei Gastfamilien unter, wo sie wieder „aufgepäppelt“ wurden. In Wien bekämpften amerikanische und britische Quäker*innen die sich epidemisch ausbreitende Tuberkulose. Als sich 1921 abzeichnete, dass sich die internationalen Organisationen zurückziehen, das Schlimmste war mehr oder minder überstanden, bauten die ÖsterreicherInnen eigene Organisationen auf. Not gab es schließlich noch immer. So entstand die Vorgängerin der Volkshilfe, die Societas. 

Worin sah die Societas politisch ihre Aufgabe?

Die Motivation der Societas und später auch Anfangs der Volkshilfe war es nicht, „den Staat zu ersetzen“, sondern helfend einzuschreiten, solange der Sozialstaat noch nicht alle Bereiche erfasst. Der Sozialstaat konnte in der Ersten Republik eigentlich nur im Roten Wien etabliert werden. Der zuständige Stadtrat Julius Tandler sah in der Societas und einigen anderen Organisationen das „Rückgrat“ seiner Reformen. Denn ohne die viele Freiwilligenarbeit, wäre vieles nicht möglich gewesen. Ziel war es jedoch, dass die private Fürsorge eines Tages überflüssig sein soll, da die öffentliche Hand das Nötige leistet. Und Fernziel war natürlich, dass der Sozialismus sich durchsetzt und es keine Armut mehr gibt.

Wie ging es weiter mit der Societas?

Ab Mitte der 1920er-Jahre verbesserte sich die Lage der Menschen etwas. In Wien bekämpfte man die Wohnungsnot mit 60.000 neuen Gemeindebauwohnungen, man verbesserte die Versorgung der Kinder, setzte im Schulwesen neue Standards. Doch die Bankenkrisen, die Weltwirtschaftskrise bedeutenden für die soziale Sicherheit große Rückschritte. Die konservative, deutschnationale Bundesregierung schwächte den Sozialstaat, ihre Minister waren in große Korruptionsfälle verwickelt… Nur Wien bildete eine positive Ausnahme, doch von einem Rückzug der privaten Fürsorge, der Societas konnte keine Rede sein.

Mit dem Bürgerkrieg 1934 war die Notlage der Menschen besonders groß…

Die rechte Regierung schaltete 1933 das Parlament und den Verfassungsgerichtshof aus, führte nach dem Februar 1934 eine Diktatur ein. Die Sozialdemokratie wurde verboten und mit ihr mussten auch die Mitarbeiter*innen der Societas in den Untergrund, um weiter den Menschen in Not helfen zu können. Es wurde die „Sozialistische Arbeiterhilfe“ gegründet, Josef Afritsch, der 1947 maßgeblich bei der Gründung der Volkshilfe mitgewirkt hat und die Gewerkschaftlerin Wilhelmine Moik bauten ein Netzwerk von circa 400 Helfer*innen auf, die tausende politisch Verfolgte und ihre Familienangehörige versorgten. Dabei wurden sie finanziell von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften aus der ganzen Welt unterstützt. Und britische und amerikanischer Quäker*innen in Wien halfen, einen unverdächtigen Rahmen für die Hilfsaktion zu schaffen. Diese Hilfsaktion dauerte die ganze Zeit des Austrofaschismus, bis 1938, an. Das Schweizer Arbeiter-Hilfswerk half direkt und ermöglichte den Kindern der Februarkämpfer Sommeraufenthalte in der Schweiz.

Wie ging es dann nach 1938 weiter?

Bis 1940 war die letzte bedeutende Untergrundorganisation der Sozialdemokrat*innen, die „Sozialistische Arbeiterhilfe“, aktiv. Doch die Gestapo infiltrierte die Organisation und bald waren alle Verantwortlichen verhaftet. Es gab viele Prozesse wegen Hochverrat. Nur isolierte Gruppen, ich nenne sie Kreise, Menschen die sich kannte, konnten weiter arbeiten und in einem engen Rahmen helfen. Hier spielt Otto Haas eine zentrale Rolle, aber auch Ella Lingens. Zugleich wurden viele der jüdischen Mitbegründer der Societas von den Nazis ermordet. Andere konnten flüchten und zogen im Exil erneut Hilfsorganisationen auf...

Wie war die Lage nach der Befreiung 1945?

Über 100.000 Österreicher*innen hatten sich vor dem Morden der Nazis ins Exil retten können. Die Exilösterreicher*innen zählten nach der Befreiung 1945 zu den ersten, die, wie z.B. Bruno Kreisky aus Schweden, mit Hilfsaktionen für Österreich starteten. Überhaupt spendeten viele Menschen im Ausland, als sie erfuhren, wie sehr die österreichische Bevölkerung unter den Folgen des Krieges litt. In England gab es gleich 1946 eine wahre Spendenflut, nachdem britische Labour-Abgeordnete, nach ihrem Wien-Besuch, im Radio von den katastrophalen Zuständen berichteten. Auch wurden bald wieder österreichische Kinder im Ausland, ähnlich wie 1920, aufgebpäppelt. Josef Afritsch war inzwischen Stadtrat und zählte zu den Koordinatoren etlicher Hilfsaktionen, im Archiv der Volkshilfe gibt es etliche Unterlagen dazu. Oft ging es um die Organisation und die Verteilung der sehr begehrten CARE-Pakete.

1946 kam es zur Gründung der Volkssolidarität, war das auch ein Vorläufer der Volkshilfe?

Nicht ganz. In der Volkssolidarität waren alle drei Regierungsparteien, SPÖ, ÖVP und KPÖ, vertreten. Man half in erster Linie den Opfern der NS-Verfolgung. Diese Menschen hatten die KZs oder Gefängnisse überlebt, waren, wenn sie nicht eingesperrt waren, meist Ausgestoßene und dadurch über viele Jahre sehr schlecht versorgt gewesen. Ihr Zustand war nach der Befreiung schlimmer noch, als der allgemein in der Bevölkerung anzutreffende. Bald kam es zu Differenzen innerhalb der Volkssolidarität und jede beteiligte Partei gründete ihre eigene Organisation. So wurde, ein Jahr vor Gründung der Volkshilfe, die Sozialistische Arbeiterhilfe, diesmal als ganz legale Einrichtung, reaktiviert.

Wie kam es dann 1947 zur Gründung der Volkshilfe und zu dem Namen?

Die Organisator*innen der Sozialistischen Arbeiterhilfe wollten, dass ihre Organisation, wie schon die Societas, für alle Hilfe suchenden Menschen offen steht. Doch war der Name dafür nicht geeignet, wie manche meinten. Im Exil hatte sich Bruno Kreisky mit dem Sozialdemokraten Willy Brandt, dem späteren deutschen Kanzler angefreundet. Dieser hatte 1939 die Hilfsorganisation „Norwegische Volkshilfe“ mitbegründet. Meines Erachtens kam daher der Name für die Volkshilfe in Österreich.

Im März 1947 kam es dann offiziell zur Gründung der Volkshilfe?

Am 21. März 1947 wurde der Verband als parteiunabhängige, gemeinnützige Wohlfahrtsvereinigung in Wien gegründet. Mitbegründerin und erste gewählte Präsidentin war Luise Renner, die Frau des damaligen österreichischen Bundespräsidenten Karl Renner. Wir finden im ersten Vorstand natürlich Josef Afritsch und Bruno Kreisky. Wieder kümmerte man sich darum, dass Kinder einen leistbaren Sommerurlaub im In- und Ausland erhalten, auch wurden weiterhin CARE-Pakete verteilt. Die örtlichen Organisationen der Sozialistischen Arbeiterhilfe gingen in jenen der Volkshilfe auf.

Dein Buch trägt den Titel:  „AUS WIDERSTAND UND SOLIDARITÄT“ - Die Vorgeschichte und die Gründung der Volkshilfe
Der Titel soll verdeutlichen, dass die Menschen, die die Volkshilfe ausmachten, weit über ihre eigentlichen Möglichkeiten hinaus halfen, sich für andere Menschen einsetzten, auch in Zeiten, wie während der Nazi-Zeit, als Helfen mit großen Gefahren verbunden war. Die Volkshilfe steht in einer Tradition der Arbeiterbewegung, der österreichischen Zivilgesellschaft und des antifaschistischen Widerstandes, an die man nicht oft genug erinnern kann. Die Leistungen und Kämpfe dieser großartigen Menschen haben schließlich geholfen, eines der ärmsten Länder Europas, das war Österreich sowohl 1918, als auch 1945, tiefgreifend zu verändern und die Lebensbedingungen der Österreicher*innen erheblich zu verbessern.

 

zur Person:
Alexander Emanuely lebt als Schriftsteller, Exilforscher und Kultur-wissenschaftler in Wien. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Theodor Kramer Gesellschaft und im Republikanischen Club – Neues Österreich politisch aktiv. Er war mehrere Jahre geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift Context XXI. In seinem jüngsten Buch „Das Beispiel Colbert“ entwirft Alexander Emanuely einen umfassenden Überblick über die kaum bekannten Ursprünge der Zivilgesellschaft in Österreich. Im Mittelpunkt der Darstellung steht ein vergessener Großer seiner Zeit: der Zeitungsgründer und Schriftsteller Carl Colbert.

Interview: Lisa Peres, Volkshilfe Österreich

29. März 2022

"Aus Widerstand und Solidarität". Vorgeschichte und Gründung der Volkshilfe
echomedia buchverlag, ISBN 978-3-903989-33-7, 
€ 24,90 

 

MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG VON

alt text Logo Wiener Staedtische alt text