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Pflege: "Es sind so große Lücken im System, die jetzt behoben werden müssen!"

Ein Gespräch mit Teresa Millner-Kurzbauer, Fachbereichsleitung Pflege und Projektleitung "Demenzhilfe Österreich"

Am 21. September wiederholte sich wieder der jährliche Welt-Alzheimertag, warum ist dieser Tag so wichtig?
An diesem Tag stellen wir an Demenz erkrankte Menschen, aber auch die pflegenden Angehörigen, in den Mittelpunkt. Ein Aktionstag, um als Gesellschaft das Augenmerk auf die Menschen hinter der Erkrankung zu richten. In Österreich sind das rund 145.000 Menschen und mind. nochmal so viele Angehörige, die ebenfalls von der Thematik betroffen sind.

Was bedeutet ein Krankheitsfall „Demenz“ für die Familie?
Diese Krankheit ist deswegen so heimtückisch, weil es dadurch zu Verhaltensveränderungen der erkrankten Person kommen kann. Beispielsweise kann verbal oder körperlich aggressives Verhalten auftreten. Viele Familienmitglieder berichten mir, dass sie gerade mit diesen Situationen kaum oder nur schwer zurechtkommen. Die Erträglichkeit, welches Verhalten toleriert werden kann, hängt zum Großteil von den Lebensumständen der jeweiligen Person der Angehörigen, ab. Zusätzlich kommt es in der Familie häufig zu einem Rollenwechsel. Wenn zum Beispiel der Familienvater an Demenz erkrankt, früher immer die Finanzen gemacht hat und das nun nicht mehr übernehmen kann, dann müssen diese Rolle jetzt vielleicht die Kinder oder die Frau übernehmen. Diese Situation kann häufig auch zur Überforderung der Angehörigen führen.

Was passiert, wenn die Diagnose Demenz beim Neurologen oder bei der Hausärzt*in festgestellt wurde?
Oft werden die Betroffenen und ihre Angehörigen mit dieser Diagnose alleine gelassen und wissen nicht, wie sie nun den Alltag schaffen sollen. Sie kennen vorhandene Unterstützungen noch nicht, wie zum Beispiel Tageszentren. Es ist für alle Betroffenen hilfreich, den Alltag stark zu strukturieren, das kann helfen,  Verhaltensauffälligkeiten zu reduzieren. Unsere Aufgabe als Gesellschaft ist es, diese Personen bestmöglich zu unterstützen, vor allem die pflegenden Angehörigen, denn sie leisten Unvorstellbares.
Es ist für die Betroffenen, als auch für die pflegenden Angehörigen enorm wichtig, eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und dazu braucht es auch politische Rahmenbedingungen.

Warum ist es so wichtig, das Augenmerk der Gesellschaft auf diese Erkrankung und auf die Menschen dahinter zu richten?
Es geht um die Enttabuisierung der Krankheit und um die Sensibilisierung der Zivilgesellschaft für diese Menschen. Wie kann man Demenzkranke im Alltag der Gesellschaft einbinden? Zum Beispiel im Bankwesen: Wie verhalten sich die MitarbeiterInnen, wenn ein Mensch mit Demenz Geld abheben möchte, oder im Supermarkt, wenn ein Kunde verwirrt ist. Wie spricht man mit diesen Leuten, wie kann man sie abholen und nicht einfach wegschauen? Während des Lockdowns hat mich eine betroffene Frau angerufen, deren Mann an Demenz erkrankt ist. Sie gehen immer in ein Einkaufszentrum, wo es früher im Erdgeschoss ein Lokal gab, wo sich ihr Mann hinsetzen konnte, um auf sie zu warten, während sie ihre Einkäufe erledigte.
Doch im Lockdown war dieses Lokal gesperrt. Da er nicht so lange stehen konnte, setzte er sich auf den Boden und wurde sofort vom Security-Personal abgeführt und rausgeworfen.

2012 hat die Volkshilfe den Fonds Demenzhilfe ins Leben gerufen. Warum?
Demenz trifft Menschen unabhängig vom Geldbörsl. Doch die Möglichkeiten, wie man der Krankheit begegnet, welche Angebote, Therapien und Betreuungssettings in Anspruch genommen werden kann, hängt stark den finanziellen Möglichkeiten. Mit dem Fonds Demenzhilfe kann man direkt bei uns um finanzielle Unterstützung ansuchen. Im Übrigen sind wir die einzige Trägerorganisation, die ein solches Angebot hat.

Wieviel Geld kann man als Betroffene oder Betroffener beantragen?
Gerade armutsbetroffene Menschen können sich oft nicht die notwendigen Therapien, Tageszentrumbesuche oder Pflegehilfsmittel leisten. Beim Demenzhilfe Fonds können einmal jährlich Betroffene, sowie ihre Angehörige, bei uns um finanzielle Unterstützung (bis zu 1000 Euro) ansuchen.
 
Was erfahre ich auf der Demenzhilfe-Webseite der Volkshilfe?
Aus Erfahrung wissen wir, dass die betroffenen Personen wenig Informationen haben, oder nicht wissen, wo sie die richtigen Informationen herbekommen. Deswegen haben wir eine Webseite zum Thema entwickelt (www.demenzhilfe.at). Hier findet man alle relevanten Informationen, zum Beispiel welche Therapie-Möglichkeiten es gibt und wie man finanzielle Unterstützung beantragen kann. Wir lassen Betroffene reden in Podcasts und Videos, um die Bevölkerung für dieses Thema zu sensibilisieren. Für Menschen ohne Internetzugang haben wir Broschüren entwickelt mit allen Informationen zu "wie man aktiv mit Demenz leben kann".

Welche aktiven Angebote gibt es derzeit in Österreich?
In den Landesorganisationen Burgenland und der Steiermark haben wir Demenz-Teams, die zu den Erkrankten nach Hause kommen und zum Beispiel Gedächtnistraining mit den Betroffenen machen. In OÖ gibt es ein eigenes Tageszentrum für an Demenz Erkrankte, dort geht man mit ihnen reiten oder schwimmen, einfach um das aktive Leben gemeinsam mit den Angehörigen zu gestalten und zu strukturieren. Alle Angebote der Volkshilfe in den Bundesländern werden ebenso auf unserer Homepage www.demenz-hilfe.at angeführt.

Ihr habt auch einen "Angehörigen-Dialog" erstellt, was kann man sich darunter vorstellen?
Den haben wir im Zuge der Demenzstrategie intern in der Volkshilfe erstellt. Es dient als Werkzeug für Gesprächsführungen für PsychologInnen oder für diplomiertes Personal. Hier kann man die Belastungsfaktoren von den pflegenden Angehörigen von an Demenz erkrankten Menschen erfragen und danach individuelle Entlastungsmöglichkeiten anbieten. Es werden zwei Gespräche geführt und am Schluss wird dann bildlich visualisiert, wo die Belastung am höchsten ist und ob die Unterstützung finanziell, oder im alltäglichen Tun benötigt wird. Es werden laufend gute Instrumente entwickelt, aber wie immer fehlt es an der Finanzierung.

Wie schaut die politische Unterstützung rund um das Thema Demenz aus?
Hinter dem ganzen Pflegesystem laufen viele Finanzströme, die alle gebündelt werden müssten. Der mobile Dienst kostet von Bundesland zu Bundesland immer noch unterschiedlich. Es braucht da dringend eine Vereinheitlichung. Es wurden von den Stakeholdern in den letzten Jahren zum Taskforce Pflege unter viel Hoffnung in Arbeitsgruppen viele gute Konzepte und Ansätze entwickelt. Aber es hapert daran, dass politisch kaum was weitergebracht wird und das Finanzministerium nicht mitwirkt. Es sind so große Lücken im System, die jetzt behoben werden müssen! Ein ganz großes Thema der Pflege ist ja vor allem der Personalmangel. Ich kann viele gute, neue innovative Dienstleistungen anbieten, aber wenn das Personal fehlt, dann funktioniert es nicht.

Was kann man dagegen tun?
Der Beruf Pflege muss attraktiver werden und darüber positiver berichtet werden. In den letzten Jahren gab es zum Thema Pflege leider immer nur negative Berichterstattung. Als diplomierte Gesundheits-/ und Krankenpflegerin kann ich sagen, der Pflegeberuf ist wunderschön. Er gibt dir so viel Selbstvertrauen und Wertschätzung zurück und so viel Respekt von den Leuten. Die Teamerfahrung und dieses Achten auf jeden einzelnen Menschen! Darüber wird viel zu wenig, bis gar nicht, berichtet. Der Beruf Pflege ist ein wunderbarer und es tut mir immer sehr leid, dass die schönen Momente im Pflegealltag nicht berichtet und wahrgenommen werden. Sicherlich muss noch viel mehr in die Ausbildung, Lebenserhaltungskosten, generell in die Rahmenbedingungen aus politischer Sicht, umgesetzt werden. Abschließend würde ich noch gerne allen meinen Kolleg*innen in der Langzeitpflege für die letzten Monate, beziehungsweise Jahr für ihre unermüdliche Hochleistung bedanken.

Danke für das Gespräch!

Interview & Foto: Lisa Peres, VH Österreich

7. Dezember 2021

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