Bundesländer
Aktionen

"Sexarbeiterinnen endlich aus dieser Tabuzone holen"

SOPHIE ist ein Beratungszentrum der Volkshilfe Wien für Sexarbeiterinnen - ein Gespräch mit Tanja Wehsely und Eva van Rahden

SOPHIE ist ein Beratungszentrum der Volkshilfe Wien für Sexarbeiterinnen, die in der Prostitution tätig sind oder waren. Ziel der Einrichtung ist es, die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeiterinnen zu verbessern.


Ein Gespräch mit Tanja Wehsely, der Geschäftsführerin der Vokshilfe Wien und Eva van Rahden, Leiterin des Beratungszentrums Sophie

Was ist die "SOPHIE - Beratungszentrum für Sexarbeiterinnen"?
Tanja Wehsely: SOPHIE ist eine langjährige Beratungsstelle innerhalb der Volkshilfe Wien, die von Eva van Rahden, einer Vorkämpferin in diesem Bereich seit vielen Jahren geleitet wird und sich mit dem Thema Prostitution und Sexarbeit befasst. Hier erhalten Sexarbeiterinnen zu all ihren Anliegen Unterstützung, sei es rechtliche Information, psychischen Beistand oder Hilfe beim Umstieg in einen anderen Beruf und vieles mehr. Unser Anliegen ist, die Sexarbeiterinnen aus dieser Tabuzone zu holen, damit sie in der Gesellschaft ernstgenommen werden – in ihrer Profession und mit ihrer Tätigkeit.

Sexarbeit ist ja leider auch 2021 noch immer ein Tabuthema ...
Tanja Wehsely: Prostitution und Sexarbeit sind heute noch immer schambesetzt, werden als „schmuddelig“ betrachtet und abfällig abgetan als "das älteste Gewerbe der Welt ". Es ist unbedingt notwendig, die Rahmenbedingungen für Sexarbeiterinnen zu verbessern und dieses Thema in ein sachliches und fachliches Licht zu rücken, um gegen Ausbeutung vorzugehen. Jeder weiß, es gibt die Sexarbeit, aber keiner will darüber reden. Das Thema muss jedoch ganzheitlich betrachtet werden: Sex als Normalität, die sexuelle Gesundheit und Sexualität im institutionellen Rahmen.

"Sexualität und Gesundheit", ein Thema, das die Volkshilfe Wien auf das Tablett gebracht hat. Ihr bietet für Sexarbeiterinnen einen "Lehrgang zu Sexualbegleitung / Sexualassistenz" an?
Eva van Rahden: Ich denke, es trägt sehr dazu bei, dem Thema die notwendige Seriosität zu geben, wenn es die Volkshilfe Wien ist, die diesen Lehrgang anbietet: Eine sechstägige Fortbildung, bei der Sexarbeiter*innen durch ausgewiesene Fachexpert*innen fundiertes und praktisches Wissen im Umgang mit alten Menschen und Menschen mit Behinderung erlernen. Gleichzeitig schulen wir in einem weiteren Workshop "Nähe, Intimität und Distanz in der Pflege" Personal aus Pflege- und Betreuungseinrichtungen, damit sie in der Praxis eine Sicherheit im Umgang mit den Klient*innen und ihren sexuellen Bedürfnissen im Alltag bekommen.

Es besteht also unbedingt Bedarf in diesem Bereich?
Tanja Wehsely: 
Dass wir heute das Thema Sexualbegleitung und Sexualassistenz unter dem Schlagwort „sexueller Gesundheit“ diskutieren und Leute aktiv dafür geschult werden, ist ein riesiger Fortschritt. Vor nicht all zu langer Zeit waren alte und behinderte Menschen noch verwahrt und es wurde nicht darüber diskutiert, welche Bedürfnisse sie haben, schon gar nicht über die sexuellen Bedürfnisse.

Eva van Rahden: Wir hatten jahrelang immer wieder Anfragen von Betreuungseinrichtungen im Behindertenbereich, in der Altenpflege und von Angehörigen, die sich bei unserer Beratungsstelle nach Sexualbegleitung erkundigt haben. Da konnten wir nicht weiterhelfen, da wir niemanden kannten, auf den wir verweisen konnten. Wir haben also wirklich auf einen Bedarf reagiert.

Was muss getan werden, damit sexuelle Begleitung in der Pflege in Österreich zur alltäglichen Selbstverständlichkeit wird?
Tanja Wehsely: Um in diesem Bereich über eine Professionalisierung im Land nachzudenken, müssten die Prostitutionsgesetze in den einzelnen Bundesländern geklärt und vereinheitlicht und die allgemeine Haltung zum Thema generell diskutiert werden. Es muss einfach ein offener Diskurs geführt werden über sexuelle Gesundheit und Sexualbegleitung.

Was passiert, wenn es zu sexuellen Übergriffen kommt?
Eva van Rahden:
Übergriffe im Bereich der Pflege passieren selten gegenüber einer Sexualbegleiterin oder Sexualassistentin. Die sind sehr professionell ausgebildet und in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu halten. Übergriffe passieren vor allem im Alltag den Heimhelfer*innen und Pflegeassistent*innen gegenüber. Bei den Mitarbeiter*innen in Institutionen hat natürlich der Arbeitgeber die Fürsorgepflicht. Hier ist es wichtig, dass die Arbeitgeber*innen zum Thema „sexuelle Übergriffe“ stärker sensibilisiert werden, denn oft läuft das in den Betrieben immer noch nach dem Motto: "Übergriffe gehören einfach dazu, daran wirst du dich schon gewöhnen". Das halten wir insbesondere als Volkshilfe absolut nicht mehr für zeitgemäß.

Tanja, Du bist ja als GF der VH das Gesicht in der Öffentlichkeit in dieser Debatte. Wie stehst du dazu?
Tanja Wehsely: Ich finde es sehr passend, wenn man unter den sozialen Hilfsorganisationen auch gewisse progressive und durchaus auch schwierige Themen voranbringen möchte. SOPHIE ist ein fester Bestandteil in der Volkshilfe Wien, durch die Vorreiterin und Leiterin Eva van Rahden gibt es ja ein großes Hinterland mit umfangreicher Expertise, was es natürlich einfacher für mich macht. Ich selbst finde dieses Thema richtig und wichtig. Und ich scheue mich nicht vor Diskursen oder Konflikten.

Wurden durch Corona Schwachstellen beim Thema Sexarbeit verdeutlicht?
Eva van Rahden: 
Die Telefone liefen während Corona heiß und es gab viele brennende Fragen: Wie kommt man ins Land, aus dem Land raus, wie versorgt man die Kinder, wie kommt man zu Geld, wenn man 100% Einkommensverlust hat? Corona hat auch nochmal deutlich gezeigt, worauf die VH Wien in Zukunft mit Sicherheit sehr viel mehr fokussieren wird: auf das Thema „Einsamkeit in der Pflege“. Teilweise war es ja nur das Betreuungspersonal, zu der die zu Pflegenden Kontakt hatten. Hier hat sich auch nochmal sehr deutlich die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach Sexualbegleitung gezeigt.

Tanja Wehsely: Wir haben während des ersten Lockdowns und der Krisenhochzeit den Sexarbeiterinnen eine Bühne gegeben. Eine Gruppe, die komplett vergessen wurde und überall ausgespart wurde, auch in allen Reglements. Die Bordelle waren ja geschlossen. Da wurden dann sehr deutlich die Bruchstellen der prekären Verhältnisse aufgezeigt. Das war eine gute Gelegenheit, an diesem Beispiel die Sollbruchstellen im Sozialstaat darzustellen. Wie geht es Personengruppen, die tabuisiert, marginalisiert und an den Rand gedrängt sind, um die man sich nicht kümmert und für deren ordentliche, rechtliche Rahmenbedingungen man nicht sorgt?

Eva van Rahden: Wir hatten im Corona-Jahr alleine auf der Webseite fast 40.000 Zugriffe. In der Hochkrisenzeit haben wir aktiv humanitäre Hilfe mit Spendenaufrufen angeboten und initiiert. Nachdem wir auch sehr stark an die Medien gegangen sind gab es mit der Stadt Wien runde Tische zum Thema „Sexarbeit“. Dadurch hatten wir dann Zugang auf Stiftungsgelder, um Lebensmittel- und Hygienepakete an die Betroffenen auszuhändigen. Auch in NÖ und dem Burgenland waren wir operativ tätig.

Tanja Wehsely: Ich muss noch anmerken: Diese teilweise Hochschwelligkeit der Sozialbürokratie trifft natürlich nicht nur die Gruppe der Sexarbeiterinnen, die zu uns in die Beratung kommt. Sondern ganz viele Kund*innen und Klient*innengruppen von uns, die nicht gut Deutsch sprechen, sich in der Bürokratie nicht allein zurechtfinden und sich daher nicht für ihre Rechte starkmachen können.

Wie schaut die Situation heute nach Corona aus?
Tanja Wehsely: Die Folgen sind bis heute noch sehr stark spürbar. Bis dato haben wir nicht mehr die Rückkehr an angemeldeten Sexarbeiterinnen in Wien wie vorher, ein Minus von fast 1000 Frauen. Immer mehr Frauen kommen mit Strafen zu uns, weil ihnen die Delogierung droht.

Wie lässt sich der prekäre Zustand verbessern? Was wünscht ihr Euch?
Tanja Wehsely: Es braucht dringend eine Pflegereform. Es muss der ganze Mensch gesehen werden. Nicht nur nach dem Prinzip "warm.satt.sauber". Das ist menschenunwürdig.

Es braucht eine Einigung darüber, dass ausreichend Geld in die Hand genommen werden muss. Derzeit redet man über den Pflegenotstand und über den Fachkräftemangel. Es wäre auch sinnvoll, dass in diesem Diskurs die sexuelle Gesundheit Platz findet und man parallel dazu Gespräche führt über die Rahmenbedingungen von Sexualbegleitung und Sexualassistenz.

Eva van Rahden: Die Einkommensschere zwischen Frauen und Männern muss sich ändern, weil sich dadurch auch das Feld der Prostitution ändert – im Kontext Macht, Einfluss und Geld. Und ich wünsche mir, dass in den Betreuungseinrichtungen hinsichtlich der Bedürfnisse nach Sexualität ein anderer Umgang stattfindet. Auch Frauen müssen in ihrer Sexualität und ihrem weiblichen Begehren ganzheitlich ernst genommen werden. Eine sachliche Diskussion zu Sexualität in der Gesellschaft in all seinen Facetten, das wünsche ich mir!

Danke für das Gespräch!

Interview & Foto: Lisa Peres, VH Österreich

19. November 2021

MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG VON

alt text Logo Wiener Staedtische alt text