Heinz Fischer

„Soziale Gerechtigkeit ist die Grundlage für eine starke Demokratie“

Heinz Fischer über Chancengleichheit, politische Verantwortung und die Gefahren einer Rechtswende

Wie definieren Sie soziale Gerechtigkeit, und warum ist sie essenziell für eine funktionierende Gesellschaft und demokratische Stabilität?

Soziale Gerechtigkeit definiere ich so, dass die Höhe von Löhnen und Einkommen nicht primär eine Machtfrage sein darf, sondern dass die Mindesteinkommen ein Leben in Würde ermöglichen, dass die Durchschnittseinkommen leistungsgerecht sind, dass die Höchsteinkommen nicht unmoralische Dimensionen annehmen, sondern in vernünftiger Relation zu den Durchschnittseinkommen stehen, dass Einkommenstransparenz herrscht und dass das Prinzip der Chancengleichheit ein Thema sachlicher Diskussion und laufender Überprüfung ist.

Welche gesellschaftlichen Bereiche sind besonders stark von sozialer Ungerechtigkeit betroffen, und welche Maßnahmen sind nötig, um Chancengleichheit zu fördern?

Soziale Ungerechtigkeiten sehe ich vor allem in den untersten und in den obersten Einkommens- bzw. Vermögenskategorien. Oft stehen Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen oder andere Bezieher von Sozialleistungen pauschal im Verdacht „Sozialschmarotzer“ zu sein. Andererseits wird in den obersten Einkommensschichten jede zusätzliche Million oder Dutzende an Millionen steuerfrei als „leistungsgerecht“ bezeichnet und so getan, als ob auch minimale Schritte im Bemühen um sozialen Ausgleich zu einem wirtschaftlichen Kollaps führen müssten: „Lieber einen Kickl als Bundeskanzler, als einen maßvollen Beitrag der obersten Vermögensschichten zur Reduzierung eines Defizits, das von einer ÖVP geführten Regierung zu verantworten ist“, lautet die Devise.

Was waren die wichtigsten Initiativen in Ihrer langen politischen Karriere und die prägendsten Erlebnisse zur Förderung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit? Was motiviert Sie weiterhin?

Ich nenne als erstes das, was man als politische Basisarbeit bezeichnen kann: Mitdenken, mitreden, mitarbeiten. Ich war Mitglied und Funktionär einer Jugendorganisation (Verband sozialistischer Mittelschüler), ich war Subkassier in der Sektion 1 der SPÖ Hietzing und bin in meinem Sprengel von Mitglied zu Mitglied gepilgert, um Mitgliedsbeiträge zu kassieren und über Politik zu diskutieren, ich war Wahlbeisitzer, habe bei der Betreuung von Flüchtlingen mitgewirkt, usw. Später –als Parlamentarier und Klubobmann – hatte ich Gelegenheit, an großen politischen und legislativen Projekten mitzuwirken, wie z. B. am Arbeitsverfassungsgesetz, an schrittweisen Verbesserungen des ASVG, an vielen Reformen zu mehrChancengleichheit in der Bildung und beim Zugang zu denUniversitäten. An Maßnahmen zu mehr Gleichberechtigungfür Frauen, an der Strafrechtsreform, an Verfassungsreformen, an der Schaffung der Volksanwaltschaft, an der Einführung des Zivildienstes, am Beitritt Österreichs zur EU, aberauch an vielen kleinen Schritten zur Demokratiereform.

Wie kann soziale Gerechtigkeit mit wirtschaftlichem Wachstum verbunden werden, und welche Rolle spielt die Politik dabei, den sozialen Zusammenhalt in einer diverseren Gesellschaft zu stärken?

Soziale Gerechtigkeit ist ein Wert und wirtschaftliches Wachstum, das auch auf die Umwelt Bedacht nimmt, ist ebenfalls ein Wert. Aber da darf es kein entweder oder geben, sondern nur ein sowohl als auch. Dabei die optimale Kombination, den optimalen Mix zu finden, ist eine zentrale, aber heikle Aufgabe der Politik. Wird diese Aufgabe zufriedenstellend gelöst, ist das auch ein wichtiger Beitrag zur Stabilität unserer Demokratie.

Welche Bedeutung hat das Bildungssystem – insbesondere die frühkindliche Bildung – bei der Bekämpfung von Ungleichheiten und der Förderung sozialer Gerechtigkeit?

Ich bin kein Experte für frühkindliche Bildung, aber ich weiß, dass Bildung eine der wichtigsten Produktionskräfte in unserer Gesellschaft ist und dass mehr Bildung eindeutig mehr Chancen schafft. Als Wissenschaftsminister (1983–1987) habe ich mich vor allem mit den Hochschulen und den Universitäten beschäftigt, den Zugang zu den Universitäten erleichtert (Abschaffung der Studiengebühren), die Studienförderung für Studierende aus sozial schwächeren Familien ausgebaut und mich intensiv bemüht, die Zahl der weiblichen Studierenden zu erhöhen.

Welche Herausforderungen sehen Sie für soziale Gerechtigkeit in den nächsten zehn Jahren, und wie kann Österreich darauf vorbereitet werden?

Es gibt in Europa (und noch mehr in den USA) derzeit einen gewissen Trend nach rechts (siehe Deutschland, Frankreich, Italien, Ungarn, Tschechien, Skandinavien und – in gewisser Hinsicht – auch in Österreich). Da wird soziale Gerechtigkeit nicht forciert – im Gegenteil. Arbeiterkammern und Gewerkschaften, Gleichberechtigung der Frauen oder Solidarität mit Flüchtlingen gelten als Feindbilder, der „starke Mann“ wird in den Vordergrund gerückt und soll anführen.

Dem muss das Konzept einer liberalen Demokratie gegenübergestellt werden, es muss der Wert einer offenen Gesellschaft hervorgehoben werden und es muss der Wert der Meinungsvielfalt und einer pluralistischen Medienlandschaft bewusst gemacht werden.

Ist eine illiberale Demokratie nicht ein Widerspruch in sich?

Illiberale Demokratie ist natürlich ein Widerspruch in sich und wird meines Erachtens von Orban als Absage an liberale Demokratie verwendet. Von den Gegnern Orbans aber als Ausdruck für eine angebliche Demokratie, die in Wirklichkeit keine Demokratie ist.

Welche Herausforderungen sehen Sie für soziale Gerechtigkeit in den nächsten zehn Jahren, und wie kann Österreich darauf vorbereitet werden?

Wir führen unser Gespräch in der letzten Januarwoche 2025 und es schaut derzeit so aus, als würde eine Rechtsregierung mit dem FPÖ-Obmann Herbert Kickl als Bundeskanzler und dem ÖVP-Obmann Christian Stocker als Vizekanzler das Ergebnis der laufenden Regierungsverhandlungen sein – obwohl Christian Stocker und die ÖVP bis vor kurzem der österreichischen Bevölkerung hoch und heilig versprochen haben, in eine von Kickl geführte Regierung nicht einzutreten. Die Tatsache, dass dieses Wahlversprechen – nach derzeitigem Stand der Dinge – gebrochen wird, schadet nachhaltig dem Vertrauen in die Politik und in die Politiker, es schadet dem Vertrauen, das Österreich im Ausland genießt, und es schadet der sozialen Symmetrie und Gerechtigkeit, weil Industrie und Wirtschaftskammer den sauren Apfel namens Kickl nur deshalb schlucken, weil sie sich dadurch wirtschaftliche Vorteile zu Lasten sozialer Gerechtigkeit erhoffen.

Worauf sind Sie besonders stolz, wenn Sie auf Ihre Amtszeit und Ihre Beiträge zur Stärkung von Österreichs Demokratie und Gesellschaft zurückblicken?

Ich verwende das Wort „stolz“ nicht gerne, weil es für mich einen negativen Beigeschmack hat. Aber ich habe seit meiner Mitgliedschaft beim Verband sozialistischer Mittelschüler und beim Verband sozialistischer Studenten immer versucht, sozial und demokratisch zu denken und zu handeln und habe das dann als Sekretär der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion, als Abgeordneter, als Klubobmann, als Wissenschaftsminister, als Präsident des Nationalrates und als Bundespräsident durch mehr als 50 Jahre hindurch fortsetzen können und dürfen. Das hat mir viel Freude gemacht und dafür bin ich dankbar.

Danke für das Gespräch!

Das in Ausgabe 01/2025 des Volkshilfe-Magazins erschienene Interview führte Lisa Peres.