16 Jahre im Einsatz für Müttergesundheit in der Westsahara
Ursula Walch im Interview
5.000 Geburten, medizinische Herausforderungen und neue Hoffnung. Seit 2009 engagiert sich Ursula Walch als Hebamme im Auftrag der Volkshilfe in den saharauischen Flüchtlingslagern. Inmitten widrigster Bedingungen arbeitet sie an einem Ziel: sichere Geburten für Frauen, deren Lebensrealität von Mangel und Unsicherheit geprägt ist.
Die saharauischen Flüchtlingslager in der algerischen Wüste sind Orte des Überlebens: extreme Hitze, chronischer Wassermangel und eine fragile medizinische Versorgung prägen den Alltag. Trotz dieser harten Umstände haben die Menschen eigene Schulen, Gesundheitseinrichtungen – bis hin zu einem Hospital – und lokale Verwaltungen – sogenannte Wilayas – aufgebaut, doch der tägliche Kampf um ein würdiges Leben bleibt.
Im Interview berichtet Ursula Walch von bewegenden Begegnungen, medizinischen Herausforderungen, dem Kampf gegen weibliche Bevormundung – und davon, wie 5.000 Geburten sie geprägt haben. Außerdem schildert sie ihre Eindrücke vom jüngsten Hebammentraining im April 2025, zu dem 51 Hebammen aus allen fünf saharauischen Flüchtlingslagern – zusammenkamen.
Lisa Peres: Du engagierst dich seit vielen Jahren in der Westsahara. Wie hat das alles begonnen?
Ursula Walch: Eines Tages bekam ich einen Anruf von Gundi Dick, der Leiterin von Volkshilfe International. Sie ist seit vielen Jahren in der humanitären Hilfe aktiv und setzt sich für soziale Gerechtigkeit, Bildung und Gesundheitsprojekte in Krisenregionen ein.
Gundi Dick war mit Najat Hamdi befreundet, der inoffiziellen Botschafterin der saharauischen Gesellschaft in Österreich. Die beiden wussten, dass die perinatale Sterblichkeit viel zu hoch war – also Mütter und Babys rund um die Geburt gefährdet waren – und wollten wissen, wie man in der Westsahara gezielt helfen/Abhilfe schaffen könnte. Die Volkshilfe hatte dort schon vor über 30 Jahren Schulen gebaut – ein starkes und nachhaltiges Projekt. Zwei dieser Schulen existieren heute noch: Blockholzbauten, die sich inmitten von Zelten und einfachen Lehmhäusern erheben. Ein beeindruckender Anblick, der zeigt, wie wichtig langfristige Solidarität ist.
Aus diesem ersten Gespräch entstand die Idee, speziell im Bereich der Müttergesundheit und Hebammenarbeit aktiv zu werden – und daraus entwickelte sich schließlich mein regelmäßiger Einsatz in den Flüchtlingslagern.
Wie sieht die Bildungssituation für Kinder heute aus?
Es herrscht Schulpflicht bis zum 15. Lebensjahr, Analphabetismus ist selten. Mädchen und Burschen erhalten eine solide Grundbildung. Für weiterführende Ausbildung müssen sie heute meist nach Tindouf oder Algier – ich sage heute, weil ehemals die Castro Brüder viele saharauische Kinder nach Cuba eingeladen hatten. Vor 16 Jahren hatte nur ein Lager Strom – heute ist die Lage besser, aber Internet, Computer oder digitales Lernen sind noch immer keine Selbstverständlichkeit.
Wie kam es zu deinem Engagement in der Geburtshilfe?
Ich war gerade aus Spanien zurück, als ich angefragt wurde, ein Projekt zur Verbesserung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit aufzubauen. Diese war erschreckend hoch – das bestätigten auch Daten von Médicos del Mundo (Anm. d. Red.: Ärzte der Welt ist eine internationale humanitäre Organisation). Allein in Dajla starben 2013 bei 690 Geburten 15 Kinder – seitdem lässt mich das Thema nicht mehr los.
Wie kam es dazu, dass du selbst involviert wurdest?
Ich hatte elf Jahre im Krankenhaus auf den Kanaren gearbeitet, dann den Hebammen-Lehrgang an der FH Joanneum aufgebaut. Als eine der wenigen Hebammen mit akademischem Abschluss war ich für konzeptuelle internationale Arbeit prädestiniert. Aber, ganz ehrlich, für meine Akzeptanz in den Lagern und bei den „Kolleginnen“ dort zählte nur, dass ich auch Hausgeburtshebamme bin – in der Entwicklungshilfe erreichst du nur etwas, wenn sie dich schätzen, d.h. du glaubwürdig bist, sonst werden deine Ratschläge nicht angenommen.
Wie sieht deine Arbeit vor Ort konkret aus?
Ich lebe mit den Menschen, oft in Zelten. Es geht um Beziehung und Vertrauen. Meine Hauptaufgabe ist die Fortbildung der Hebammen. Im April 2025 habe ich 51 Hebammen trainiert – zu Anämie, Spinning Babies (Methode, die mit einfachen Übungen hilft, das Baby in die beste Geburtsposition zu bringen – für eine leichtere Geburt), Kaiserschnitt-Management. Dank eines Projekts der Volkshilfe erhielt jede Teilnehmerin 100€, was bei einem Monatsgehalt von rund 30€ ein großer Anreiz ist.
Wie ist die Lage bei den traditionellen Hebammen?
Meist handelt es sich um ältere Laien ohne Ausbildung. Die von ihnen geleiteten Hausgeburten sind innerhalb dieser 16 Jahre sehr stark zurückgegangen. Heute werden Hebammen an der saharauischen Krankenpflegeschule ausgebildet, sie entbinden die Frauen entweder zuhause oder in den Dispensarios, dem Modell der spanischen Centros de Salud, von denen die Volkshilfe übrigens als Teil unseres Projekts eines neu errichtet und zwei weitere renovierte. Nur wenige Frauen wollen ins Spital. Zwei Kolleginnen hatten formale Schulungen, eine in Algerien, eine in Russland – letztere ist zur Zeit als Oberhebamme im Gesundheitsministerium für die Müttergesundheit zuständig. Davor wurde Wissen durch Zuschauen und Aberglauben weitergegeben – oft mit gewaltsamen Methoden. Das hat sich gebessert. Was sich nicht gebessert hat sind die primitiven hygienischen Bedingungen, auch in den Dispensarios, auch im Spital. Es ist nicht der Umstand, dass auch dort Geburten zum Teil auf dem Boden stattfinden, es ist das Verständnis von Hygiene. Leider konnte hier (noch) kein Bewusstsein geschaffen werden, die hygienischen Verhältnisse sind eine Katastrophe.
Wie funktioniert Geburtshilfe ohne moderne Medikamente?
Man braucht nicht viel: Oxytocin, Mittel zur Blutstillung, Infusionen, Desinfektionsmittel. Vollblut gibt es keines. Ein riesiges Problem ist Anämie durch Mangelernährung. Zwar gibt es inzwischen mehr Obst und Gemüse, aber die Preise sind für viele unleistbar.
Wo fehlt es am dringendsten?
Das größte Problem ist die katastrophale Infrastruktur. Das Hospital Materno-Infantil in Rabouni (Anm. d. Red.: liegt im äußersten Westen Algeriens, nahe der Stadt Tindouf, in der gleichnamigen Provinz. Es ist das administrative Zentrum der sahrauischen Flüchtlingslager, die seit Mitte der 1970er Jahre bestehen) ist bis heute nicht betriebsbereit – es fehlt an der Installation, der Einrichtung, Sterilisatoren, Fliesen, Reanimationstischen. Es gibt keinen Gynäkologen, und Notfalltransporte aus der abgelegenen Oase Dajla sind unsicher. Die spanische Staatshilfe wurde von 30 auf 10 Millionen Euro gekürzt, NGO-Mittel sogar um bis zu 80%.
Wie lassen sich Hebammen besser auf Risiken und Notfälle vorbereiten?
Nach wie vor werden die unzureichenden Hilfslieferungen beklagt. Den Gesundheitszentren fehlen Medikamente und Geräte. Die aktiven Hebammen aller Lager verfügen punktuell über angemessenes Theoriewissen, aber kaum Erfahrung mit Notsituationen und Pathologien. Das Management geburtshilflicher Komplikationen – etwa bei Schulterdystokie, Atonie (Muskelerschlaffung, z. B. der Gebärmutter nach der Geburt), Reanimation oder Beckenendlagen – ist mangels Transportmöglichkeiten nach Rabouni oder Tindouf besonders dringend. Spezialtrainings zu CTG, Dammversorgungen, Vakuumextraktion oder Episiotomien wären essenziell. Auch Rückbildung und Beckenbodentraining fehlen völlig – trotz der vielen Schwangerschaften. Es braucht hier dringend Sensibilisierung.
Was wären langfristige Perspektiven und notwendige Schritte?
Ein Ziel ist, riskante Geburten ins Spital zu verlagern – mit besserer Ausstattung, etwa CTG. Und zumindest einen, am besten zwei Gynäkologen zu verpflichten. Hygiene- und in Schulen – idealerweise ab der Oberstufe – wäre zentral. Multiplikatorinnen-Modelle wären hier sinnvoll: gut geschulte Hebammen als Aufklärerinnen in Schulen. Was Familienplanung betrifft: Das Thema stieß lange auf Widerstand im muslimisch geprägten Gesundheitswesen. Aber Médicos del Mundo arbeitet seit Jahren erfolgreich daran – das zeigt Wirkung.
Ein sensibles Thema ist die weibliche Genitalverstümmelung. Was hast du erlebt?
In der Westsahara gibt es diese Tradition zum Glück nicht. Im Senegal und in Mauritanien, die mit vielen Saharauis verwandtschaftliche Beziehungen haben, aber sehr wohl – oft sind es dort Hebammen, die Verstümmelungen durchführen. Ich habe mit NGOs zusammengearbeitet, die über mobiles Theater, Aufklärung und medizinische Hilfe intervenieren. 2013 zog ich durch den Senegal, 2014 gründete ich mit Sigrid Wernegg unsere Non-profit-Organisation SAAMA in Österreich und 2015 im Senegal. Wir machen Kampagnen in der Casamance, in Senegals Süden, zuletzt ein Projekt auf den Kapverden.
Was versteht man unter dem „mobilen Theater?
Diese mobilen Theater sind eine Form der Aufklärungsarbeit: Schauspieler*innen ziehen mit einfachstem Equipment direkt in Dörfer oder Gemeinden und spielen kurze Stücke – meist auf öffentlichen Plätzen. Die Inhalte drehen sich um gesellschaftlich heikle Themen wie weibliche Genitalverstümmelung. Wichtig ist, dass sie in der lokalen Sprache und kulturell angepasst sind. So erreicht man die Menschen emotional und ohne sie bloßzustellen.
Arbeitest du noch in Österreich?
Ja, ich begleite nach wie vor Hausgeburten. Sie sind seit der Pandemie stark gefragt – viele Frauen wollen nicht mehr ins Spital. In der Steiermark sind wir nur fünf bis sechs Hebammen, die das anbieten.
Wo ist dein Lebensmittelpunkt?
Wo ich gerade bin. Heute pendle ich zwischen Österreich und Spanien. Auf La Palma habe ich elf Jahre im Spital gearbeitet, bevor ich an die Uni nach Graz geholt wurde. 2023 arbeitete ich im Inselspital von La Gomera. Im Nov/Dez. 2024 unterrichtete ich an der Uni der Kapverdischen Inseln.
Du hast auch Bücher geschrieben?
Ja, elf inzwischen. Historische Romane, erotische Romane (unter Pseudonym), „Blutiges Brautgeld“ (über meine Erfahrungen mit FGM), „Bei Anruf Baby“ im Heine Verlag, „born@home“ – ein zweites über meine Erfahrungen bei Hausgeburten. Keine trockenen Fachtexte, sondern lebendige Geschichten mit Humor und Herz.
Danke für das Gespräch.
Ursula Walch ist auch Autorin. Ihr aktuelles Buch: born@home – Erlebnisse einer weit gereisten Hebamme. 17 Geschichten rund um Hausgeburten weltweit. Memoir, 315 Seiten, Keiper Verlag
Mehr unter: www.ursula-walch.com