Teresa Millner-Kurzbauer und Ann-Kathrin Ruf von der Volkshilfe Österreich/Demenzhilfe

Menschen mit Demenz gehören in die Mitte der Gesellschaft

Wie gehen wir als Gesellschaft mit Demenz um? Und was muss passieren, damit Betroffene und Angehörige die Hilfe bekommen, die sie brauchen?

Im Gespräch mit Teresa Millner-Kurzbauer, Leiterin des Bereichs Pflege & Betreuung/Demenzhilfe bei der Volkshil­fe, und Projektmitarbeiterin Ann-Kathrin Ruf wird schnell deutlich: Es braucht mehr Sichtbarkeit, mehr Unterstützung – und mehr Mut zur Veränderung. Die beiden sprechen of­fen über familiäre Herausforderungen, politische Hürden und bewegende Momente aus ihrem Berufsalltag. Ein Ge­spräch über Tabus, soziale Teilhabe und gelebte Solidarität.

Teresa, was hat Dich persönlich dazu motiviert, Dich so intensiv dem Thema Demenz zu widmen und schließlich die Demenzhilfe mitzugründen?

Teresa: Pflege war bei uns in der Volkshilfe von Anfang an ein zentrales Thema – für Betroffene wie für Angehörige. Ich habe im Jahr 2000 mein Diplom als Gesundheits- und Krankenpflegerin absolviert – damals war ich noch „Kran­kenschwester“. In meiner Arbeit mit älteren Menschen habe ich früh erlebt, wie sehr Menschen mit Demenz und ihre Familien unterstützt werden müssen. Kolleg*innen aus den Volkshilfe-Landesorganisationen haben mir erzählt, wie häufig Demenz vorkommt – egal ob im mobilen oder sta­tionären Bereich. Gemeinsam mit einer Stiftung haben wir deshalb den Fonds Demenzhilfe und später die Demenz­hilfe gegründet.

Was war der erste Schritt?

Teresa: Wir haben Betroffene gefragt, was sie am drin­gendsten brauchen. Die Antwort war klar: finanzielle Hil­fe. Viele können sich Betreuung und/oder Pflege zu Hause schlicht nicht leisten. Danach haben wir eine Informations-Website aufgebaut und unser Netzwerk erweitert. Heute arbeiten wir in der nationalen Demenzstrategie mit und machen das Thema sichtbarer, denn viele wissen gar nicht, wie sie mit Betroffenen oder Angehörigen umgehen sollen.

Was ist Dir in Deiner Arbeit besonders wichtig – und was braucht es für ein gutes Leben im Alter?

Teresa: Ich möchte, dass wir als Sprachrohr fungieren – für Be­troffene und zur Sensibilisierung. Wir müssen uns fragen: Wie wollen wir alt werden? Wie gepflegt werden? Diese Fragen wer­den oft verdrängt – bis es plötzlich soweit ist. Für ein gutes Leben im Alter braucht es Freundschaft, Nachbarschaft, Netzwerke. Zu wissen, wer nebenan wohnt, ist Gold wert – auch wenn man sich beispielsweise „nur“ den Fuß bricht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird brüchiger – genau deshalb müssen wir da­rüber reden.

Warum ist das Thema immer noch ein Tabu?

Teresa: Viele verdrängen das Thema, weil sie Angst haben, selbst betroffen zu sein. Hilfe anzunehmen ist noch immer mit Scham besetzt. Dabei sind Freundschaft, Nachbarschaft und professio­nelle Unterstützungsangebote im Alter entscheidend.

Anni: Das gesellschaftliche Bild von Demenz ist oft verzerrt. Viele denken, ein Mensch mit Demenz sitzt nur noch apathisch da. Dass es immer auch viele gute Momente geben kann, ist kaum bekannt. Mehr Wissen würde helfen, Angst zu nehmen und frü­her Unterstützung zu holen.

„Hilfe anzunehmen ist noch immer mit Scham besetzt.“

Viele Menschen wissen gar nicht, wie sie mit Demenz um­gehen sollen – sie kennen sich nicht aus, wissen nicht, was zu tun ist. Was muss sich ändern? Was muss die Politik tun?
Teresa: Es braucht mehr Bewusstseinsbildung im Alltag. Wäh­rend Corona wurde ein demenzkranker Mann, der vor einem ge­schlossenen Café wartete, von der Polizei entfernt. Es fehlt an Sensibilisierung. Im ländlichen Raum war es anders: Ein Mann mit Demenz ging täglich zur gleichen Zeit spazieren. Wenn er nicht kam, fragten die Leute nach. Genau das braucht’s – offene Augen, Achtsamkeit, Zusammenhalt. Und politisch? Aufklärung, mehr niederschwellige Angebote, digitale Hilfen wie Demenz-Simulatoren – und vor allem: keine finanziellen Kürzungen bei älteren und pflegebedürftigen Menschen.

Welche politischen Maßnahmen braucht es konkret?

Teresa: Erstens: bessere Rahmenbedingungen für Pflegekräfte. Der Beruf ist erfüllend, aber die Bedingungen müssen passen. Zweitens: mehr Angebote im Bereich psychischer Gesundheit. Psychotherapie ist oft nicht leistbar, weil es zu wenig Kassen­plätze gibt. Drittens: mehr Unterstützung in der Ausbildung – fi­nanziell, beratend, begleitend. Nicht nur in der Pflege, sondern in allen sozialen Berufen. Die Politik könnte hier echte Meilensteine setzen. Stattdessen wird oft nur gespart und das Berufsbild leider deutlich abgewertet.

Was tun, wenn Betroffene keine Hilfe annehmen wollen?

Teresa: Leider kein Einzelfall. Viele Betroffene sehen die Veränderung nicht oder wollen sie nicht wahr­haben. Wichtig ist, dranzubleiben, kleine Schritte zu gehen – nicht mit Druck, sondern mit Geduld. Manch­mal hilft es, wenn jemand Außenste­hender das Gespräch führt. Und für die Angehörigen: unbedingt selbst Hilfe holen, um nicht selbst auszu­brennen.

Anni: Da spielen familiäre Rollenbil­der stark mit. Gerade ältere Frauen glauben oft: Pflege ist Familiensa­che, Hilfe von außen ist Schwäche. Dabei ist es schön, wenn man sich unterstützt – aber nicht bis zur Selbstaufgabe. Hilfe anzunehmen ist kein Versagen, sondern Stärke. Wer Unterstützung holt, erkennt seine Grenzen – und schützt damit auch die Familie.

Teresa: Genau deshalb braucht es den Blick von außen. Angehörige stoßen oft an ihre Grenzen – wenn die Tochter etwas sagt, stößt sie mit ihren Anliegen oft auf taube Ohren. Kommt aber jemand von außen, wie eine Beraterin oder beispielsweise der Hausarzt, ist die Offenheit meist größer. Wenn man sich Hilfe holt – wer zahlt das alles? Was, wenn ich mir das nicht leisten kann?
Teresa: Es kommt darauf an, welche Unterstützung man benötigt. Heim­hilfe oder Pflege zu Hause wird vom Bundesland und Trägern mitfinan­ziert – mit Selbstbehalt, je nach Ein­kommen und Pflegegeld. Bis Pfle­gestufe 3 zahlt man im Burgenland einen Heimplatz komplett selbst. Grundsätzlich gibt es durchaus Un­terstützungsmöglichkeiten und ent­sprechende Angebote.

„Hilfe anzunehmen ist kein Versagen, sondern Stärke.“

Woran erkennt man eigentlich, dass jemand an Demenz leidet? Und was ist der Unterschied zwischen Alzheimer und Demenz?

Anni: Alzheimer ist eine Form von Demenz – es gibt aber auch andere, wie die frontotemporale oder Lewy-Body-Demenz. Viele sagen einfach „Alzheimer“, weil’s geläufiger ist. Wichtig: Vergesslichkeit allein ist noch keine Demenz. Wenn es aber auffällt, sollte man das abklären – um andere Ursachen aus­zuschließen und früh gegenzusteuern. Wer früh erkennt, kann früh handeln.

Also zur Hausärztin oder zum Hausarzt gehen?

Anni: Genau. Die oder der überweist dann weiter – zur Ra­diologie, Neurologie oder in eine Gedächtnisambulanz. Es braucht mehrere Tests, nicht nur einen Bluttest. Wenn man nicht mehr selbst hingehen kann, ist auch eine stationäre Ab­klärung möglich.

Gibt es Zahlen dazu, wie viele Menschen in Österreich an Demenz erkrankt sind?

Teresa: Es existieren keine offizielle Zahlen, lediglich unge­fähre Schätzungen. Lange war von 130.000 Betroffenen die Rede, zuletzt sprach die Gesundheit Österreich GmbH von 168.000 an Demenz erkrankten Menschen in Österreich. Das sind plausible Schätzwerte.

Anni: Und das betrifft nur Diagnosen. Die Dunkelziffer ist hoch – viele lassen sich nicht testen, etwa aus Angst oder weil sie allein leben. Ein Beispiel: Eine Frau meldete sich, weil ihre Nachbarin ständig im Schlafgewand unterwegs war. Der Ver­dacht auf Demenz lag nahe, doch die Betroffene wollte nichts davon wissen. Genau deshalb ist eine frühe Abklärung so ent­scheidend.

Gedächtnistraining wird ja oft empfohlen. Bringt das wirklich was?

Anni: Absolut. Gedächtnistraining ist auch ohne Demenz sinnvoll – das empfehle ich wirklich jeder Person. Vor allem im Alter tut es gut, rauszukommen. Soziale Kontakte sind wichtig für die Prophylaxe. Wer in Pension ist und sich unterfordert fühlt, kann eine Gedächtnisgruppe besuchen. Das macht Spaß und bringt was.

Was braucht es, damit Angehörige spürbar entlastet werden und nicht das Gefühl haben, ständig verfügbar sein zu müssen?

Anni: Wichtig ist, dass Angehörige lernen, loszulassen – oft der schwierigste Schritt. Es braucht Vertrauen in die Betreuung und den Mut, Verantwortung abzugeben. Das passiert nicht von heute auf morgen, sondern in kleinen Schritten, mit Hö­hen und Tiefen.

Teresa: Genau. Wer pflegt, sollte gut vorbereitet sein – auch vertraute Bezugspersonen. Es hilft, wenn sie lernen, diese freie Zeit bewusst zu nutzen, statt in ständiger Alarmbereitschaft zu bleiben. Wenn Angehörige loslassen, kann auch die betroffene Person neue Routinen entwickeln – vielleicht bleibt sie dann noch auf einen Kaffee oder besucht das Tageszentrum erneut. Solche Entwicklungen brauchen Geduld – auf beiden Seiten.

Gab es persönliche Momente mit Demenzbetroffenen, die Euch berührt oder besonders in Erinne­rung geblieben sind?

Teresa: Es gibt viele schöne Mo­mente – kleine Gesten, berührende Rückmeldungen, ehrliche Gesprä­che. Ich finde eigentlich jeden Tag schön, weil ich mit einem groß­artigen Team arbeite und weil wir immer wieder Rückmeldungen be­kommen, etwa von Angehörigen, die sagen: „Danke, das hat uns ge­holfen.“ Das motiviert. Es ist nicht ein einzelnes Erlebnis, sondern die Summe: dass man sich gegenseitig stärkt, voneinander lernt und weiß, dass auch das hundertste Gespräch jemandem helfen kann. Das macht die Arbeit besonders.

Anni: Ein besonders schönes Er­lebnis war der „Vergiss-mein-nicht-Ball“ in Kärnten – ein inklusiver Ball für Menschen mit und ohne De­menz. Da wurde gesungen, getanzt, gelacht – mit Musik, die Erinne­rungen weckt. Es war lebendig und herzlich. Solche Veranstaltungen zeigen: Menschen mit Demenz ha­ben Freude, sind aktiv und gehören in die Mitte der Gesellschaft. Und wenn mal etwas passiert, ist das kein Grund für Scham. Es ist normal und darf einfach sein.

Was wünscht Ihr Euch im Umgang mit Demenz – beruflich und persönlich?

Anni: Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft früher hinschauen und Angehörige rechtzeitig entlasten. Viele stehen unter enormem Druck – körperlich wie seelisch. Ohne Un­terstützung droht Überforderung bis hin zum Burnout. Das kann auch zu ungewollter, subtiler Gewalt führen. Deshalb braucht es frühzeitige Hilfe und klare Angebote.

Teresa: Die Volkshilfe holt das ans Licht, was oft verdrängt wird – mit Aufklärung, konkreter Unterstüt­zung und klarer Haltung.

Danke für das Gespräch.

DGKP Teresa Millner-Kurzbauer, MBA
Bereichsleitung Pflege & Betreuung/Demenzhilfe
Teresa Kurzbauer
Dipl.-Jur. Ann-Kathrin Ruf
Projektmitarbeiterin Demenzhilfe